EXPORT- UND ZOLLPRAXIS KOMPAKT
Handelslogistik 2036 – eine Zukunftsprognose
Wie sieht der Handel in 15 Jahren aus und was sind die Herausforderungen?
Text: Wolfgang Rieß | Foto (Header): © ibravery – stock.adobe.com
Die Handelslogistik steht in den kommenden Jahren gleich vor mehreren Herausforderungen. Im Zuge dessen werden die Kundenanforderungen weiter steigen. Um diese befriedigen zu können, ist und bleibt die große Aufgabe, die Chancen der Automatisierung zu nutzen und dabei die Balance zwischen Online- und Offlinehandel nicht zu verlieren. Denn auch, wenn der Onlinehandel weiter zunehmen wird, der stationäre Handel darf und kann nicht vernachlässigt werden.
Auszug aus:
Zoll.Export
Ausgabe Dezember 2022
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INHALTE DES BEITRAGS
Autofreie Innenstädte
Höchste Flexibilität bei der Lieferzeit
Die Frage nach den Kosten
Die Lieferfahrzeuge der Zukunft
Autonome Fahrzeuge und Miniroboter
Drohnen werden Nischenlösungen bleiben
Betrachten wir es langfristig
Click & Collect bleibt zentral
Was kann der Endkunde beitragen?
Neue Konzepte bei großen Versandhäusern
Einkaufen 2036
Der Handel im Wandel
Fazit: Zukunft des Einkaufens – heute und 2036!
Experten gehen davon aus, dass im Jahr 2036 der sog. „Omnichannel“ der dominante Vertriebsweg sein wird. Darunter versteht man ein kanalübergreifendes Geschäftsmodell für Unternehmen zur Verbesserung des Kundenerfahrungsmanagements. Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass die Umsätze im E-Commerce von heute 12 auf dann 42 % ansteigen werden.
Und damit sind wir schon bei einer der großen Herausforderungen, denn die Zustellung an der Haustür wird dabei die Ausnahme bleiben. Hier werden v. a. die mobilen Abholstationen an Bedeutung gewinnen, und wenn Zustellungen erfolgen, dann auch immer weniger mit Zustellfahrzeugen, sondern vermehrt mit z. B. Lastenfahrrädern.
Hier wird es in den nächsten 10 bis 15 Jahren einen spürbaren Kulturwandel geben, weg von „schmutzigen“ und energieverbrauchenden Transporten, hin zu Werte schaffenden Dienstleistungen.
Wenn wir von immer höheren Kundenanforderungen sprechen, dann ist hier in erster Linie gemeint, dass der Kunde zunehmend wenig dazu bereit sein wird, auf Lieferungen lange zu warten oder seinen eigenen Tagesablauf auf ausstehende Lieferungen auszurichten.
Die Folge davon wird sein, dass in den kommenden Jahren über völlig neue Infrastrukturen nicht nur nachgedacht werden kann, sondern diese auch entstehen müssen. Besonders im Fokus dabei stehen die Großstädte, die mit neuen Lägern bis hin zu Microhubs in Wohnvierteln für eine effizientere Feinverteilung stehen werden.
Autofreie Innenstädte
Bei diesem Ansatz fragt man sich, wie das gehen soll, wenn man heute sieht, wie viele Fahrzeuge täglich in die Innenstädte fahren, um Ware auszuliefern. Aber im Sinne des Umweltgedankens, der Nachhaltigkeit und der weiteren Vermeidung von Emissionen muss und wird weiter intensiv daran gearbeitet, neue, kleinere Lieferfahrzeuge zu entwickeln – teilweise auch autonom. Das wird den Verkehr in den Städten entlasten, und die Ware wird schneller beim Kunden sein.
Höchste Flexibilität bei der Lieferzeit
Die Grundtendenz der Logistik wird sein, dass die Lieferzeiten immer kürzer werden und v. a., dass der Kunde selbst flexibel bestimmen kann, wann er seine Ware erhält. Auch heute kann bei vielen Händlern schon auf die Same-Day-Delivery zurückgegriffen werden, und hier liefern sich die Lieferanten einen extremen Wettbewerb. In den nächsten 10 bis 15 Jahren wird die Spanne zwischen schnellstmöglicher Lieferung, bei möglichst später Bestellung noch extremer ausgedehnt werden. Wer hier am besten performt und die Lieferung in ihrer Zusammenstellung der bestellten Artikel am wenigsten Fehler aufweist, wird die Nase vorne haben.
Kennen Sie Tiramizoo aus Deutschland, Annanow aus der Schweiz oder 7-Eleven aus den USA?
Das sind Lieferdienste, die Waren in weniger als einer Stunde zustellen. Der Schweizer Kurierdienst bzw. der Kurierdienst aus Amerika hat sich auf die Fahne geschrieben, Zustellungen innerhalb von einer halben Stunde durchzuführen.
Um solche extrem kurzen Lieferzeiten anbieten zu können, sind dezentrale Lagerbestände notwendig. Und hier stellt sich wiederum die Frage, welche Anforderungen erfüllt sein müssen, damit ein Netz aus vielen kleinen dezentralen Lagerstellen aufgebaut werden kann. Darüber hinaus darf hierbei auch der Kostenfaktor nicht außer Acht gelassen werden. Da kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass das wohl nur große Multichannel- Händler mit eigenem Filialnetz oder sehr große Onlinehändler, leisten können.
Die Frage nach den Kosten
Die Kosten, die für solche Lieferungen erhoben werden müssten, könnten vor solchen schnellen Lieferungen abschrecken, denn diese sind die Kehrseite der Medaille. Natürlich ist es angenehm und vielleicht auch in dem einen oder anderen Fall notwendig, eine Lieferung innerhalb von einer Stunde zu erhalten. Und dann ist man auch bereit, dafür tiefer in die Tasche zu greifen. Aber grundsätzlich die dafür recht hohen Gebühren zu bezahlen, wird doch viele Verbraucher davon abschrecken, diesen Service in Anspruch zu nehmen. Darum wird der Normalfall bleiben, eine Lieferung am nächsten Tag, mit fest zugesagten Zeitfenstern und mit flexiblen Verschiebungsmöglichkeiten zu erhalten.
Es wird spannend zu beobachten, welche Lieferanten und welche Produkte sich in den nächsten Jahren in welche Richtung der Lieferrhythmen entwickeln werden. Beide Varianten werden bedarfs- und produktabhängig ihre Daseinsberechtigung haben.
Die Lieferfahrzeuge der Zukunft
Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf die Lieferfahrzeuge der Zukunft werfen. Auch hier sind wieder verschiedene Blickwinkel in Erwägung zu ziehen. Aus umwelttechnischer Sicht wird weiter darauf gesetzt, Elektrofahrzeuge inkl. der benötigten Infrastruktur wie Elektro-Ladestationen zu entwickeln.
Aus der grundsätzlichen Fahrzeugsicht versucht man ebenfalls weiter, ganz von den klassischen Fahrzeugen wegzukommen und auf alternative Transportmittel wie z. B. fahrradbasierte Lieferfahrzeuge zu setzen, die allerdings jeweils nur Platz für einige wenige Lieferungen bieten.
Autonome Fahrzeuge und Miniroboter
Davon, dass wir wie bei „Krieg der Sterne“ mit vielen verschiedenen Arten von Raumgleitern durch die Städte fliegen, sind wir noch weit, weit entfernt. In den letzten Jahren sind zwar immer wieder kleinere Versuche mit autonomen Lieferfahrzeugen in Form von fahrenden Minirobotern durchgeführt worden, aber dass diese Konzepte angesichts des notwendigen Transportvolumens in den nächsten Jahren wirklich eine nachhaltige Lösung darstellen können, ist schwer vorstellbar.
Drohnen werden Nischenlösungen bleiben
2013 hat Amazon den ersten Prototypen einer Drohe für die Zustellung von Paketen vorgestellt. Seitdem laufen zwar viele Projekte über diesen Weg, wie z. B. die Lieferung von Medikamenten in Afrika, aber einen richtigen Durchbruch hat die Drohe noch nicht geschafft. Nach unseren Recherchen und Einschätzungen werden die Drohnen zumindest die nächsten 20 Jahre noch ein Nischenprodukt bleiben. Ein Hauptgrund dafür ist, dass Drohnen in keinster Weise das Paketvolumen bewältigen können, das sich aktuell pro Jahr auf ca. 5 Mrd. KEP-Sendungen (Standard, Express etc.) beläuft.
Wie könnte man sich das vorstellen, wenn Drohnen pro Tag ca. 20 Mio. Pakete ausliefern würden? Auch gesellschaftlich hätte es eine solche Logistik nur schwer in der Akzeptanz. Ein weiteres noch ungelöstes Problem von Drohnen und Lieferrobotern ist übrigens auch, dass hier der Kunde die Ware auf der Straße (oder dem Dach) entgegennehmen müsste, was gegenüber der Lieferung durch den Paketboten deutlich unbequemer ist.
Betrachten wir es langfristig
Es werden ganz neue Mobilitäts- und Transportkonzepte entstehen. Große Händler bzw. große Handelsketten stellen sich die Frage, wie Transportkonzepte der Zukunft vor dem Hintergrund extrem steigender Volumina aussehen könnten. Wie muss v. a. auch die zukünftige Infrastruktur aussehen, um diese Herausforderung zu bewältigen?
Der Ansatz, dabei Fahrzeuge im Tagesablauf zu unterschiedlichen Zwecken einzusetzen, also z. B. als Bus für den Personentransport zu den Stoßzeiten am Morgen und Abend und dazwischen für Auslieferungen von Ware aus dem Onlinehandel, wird intensiv verfolgt.
Oder dass Miniroboter zumindest die Zustellung auf der letzten Meile übernehmen. In der Kombination mit autonom fahrenden Transporteinheiten wäre das ein Durchbruch. Die autonome Transporteinheit transportiert die Pakete und die Miniroboter in die Nähe der Kunden, und von dort übernehmen dann die Roboter die Zustellung, wie gesagt, auf der letzten Meile.
Eine Steigerung dieser Herangehensweise wäre es dann, wenn die City-Hubs auch noch automatisiert wären. In vollautomatischen Umschlagspunkten werden autonom fahrende Lieferfahrzeuge bestückt, und diese fahren dann, ebenfalls wieder vollautomatisch, mit der Ware, zum Endkunden. Ich denke, dieser Gesamtansatz einer Vollautomatisierung wird Teil eines langfristigen Lösungsansatzes sein
Click & Collect bleibt zentral
Das hat sich v. a. in der Covid-19-Krise bewährt. Viele Händler und hier insbesondere die Multichannel-Händler, die ein Filialnetz als Abholstation anbieten können, haben hierbei profitiert. Dementsprechend haben sie diese Art der Warenverfügbarkeit und deren Abholung bis heute beibehalten. Hier sehe ich auch den Ansatz, Kooperationen mit dem stationären Handel einzugehen und solche Konzepte anzubieten.
Was kann der Endkunde beitragen?
Es klingt zwar banal, aber auch die Briefkästen werden sich verändern. Diese werden zukünftig größer werden, um Pakete aufzunehmen und in einem größeren Mehrfamilienhaus gemeinsam nutzbar zu sein. Auch die Abgabe von Paketen beim Nachbarn wird sich weiter fortsetzen, obwohl hier keine wirklich effizienten, verlässlichen und kontrollierbaren Prozesse dahinterstehen.
Neue Konzepte bei großen Versandhäusern
Zalando und Outfittery testen Kofferraumund „In-Home“-Lieferungen. Dass diese Ansätze zukünftig ein Teil der Lösungen sein werden, ist denkbar. Allerdings sind diese Versuche bislang fast immer gescheitert oder mangels Nachfrage eingestellt worden. Denn das Auto und noch viel mehr die Infrastruktur des eigenen Hauses sind zu sehr Privatsphäre, als dass man hierfür Vereinbarungen mit Lieferdiensten treffen wird.
Auch Unternehmen wie Amazon Key, Walmart oder Waitrose testen diesen Ansatz. Aber ob viele Kunden das Vertrauen haben, Fremde in ihre Wohnung und sogar in ihre Küche zu lassen, die dort am Kühlschrank die Ware auffüllen, darf durchaus skeptisch eingeschätzt werden.
Einkaufen 2036
2036 wird es deutlich weniger Ladengeschäfte geben, darin sind sich alle Experten einig. Umfragen in der kaufenden Gesellschaft haben hier erste Ergebnisse geliefert. Dementsprechend ist es besonders auffällig, dass besonders in der Altersgruppe von 18 bis 24 Jahren, die völlige Zustimmung am niedrigsten ist. Mit 22 % liegt sie zehn Prozentpunkte unter dem Durchschnitt aller anderen Altersgruppen. Insgesamt stimmen gut 50 % der befragten Konsumentinnen und Konsumenten zu, dass es vermutlich in Zukunft weniger Stores geben werde.
Wollen junge Menschen doch wieder mehr stationär shoppen? Diese These könnte man aus den Umfragen fast ableiten. Ladengeschäfte haben durchaus eine Zukunft, aber sie müssen eine shopping- und erlebnisaffine Zielgruppe ansprechen können. Und bedenken Sie bitte eines: Junge Menschen haben (noch) nicht die Erfahrung gemacht, dass es immer weniger Läden gibt, und somit können sie diese auch nicht in die Zukunft extrapolieren. Ob die jungen Menschen wirklich wieder vermehrt im stationären Handel shoppen gehen werden, bleibt abzuwarten.
„Der Handel im Wandel“
Während wir als Konsumentinnen und Konsumenten im Zeitalter des Internets vermehrt verwöhnt werden und bequem auf der Couch durch unendlich viele Angebote scrollen und virtuelle Supermärkte betreten können, befindet sich der Handel im Umbruch. Erste Unternehmen bieten bereits den Rund-um-Sorglos-Service an. „Quo vadis“ Einzelhandel? Genügen uns zukünftig 3-D-Animationen? Oder möchten wir doch selbst weiter ein Produkt ertasten, es anprobieren und vor Ort entscheiden, ob wir es kaufen oder nicht? Das alles ist zum aktuellen Zeitpunkt ungewiss. Und auch wenn aktuelle Forschungsansätze versuchen, das Kaufverhalten für die Zukunft zu prognostizieren, so ist es logischerweise zum heutigen Zeitpunkt noch nicht ersichtlich, was tatsächlich eintreten wird und was nicht.
Schauen Sie sich einmal die folgenden Thesen an und entscheiden Sie selbst, was Sie für realistisch halten:
1. These: 25 bis 30 % des Marktes für neue Produkte entfallen auf E-Commerce. Dabei werden tausende on- und auch offline Geschäfte bis 2036 komplett vom Markt verschwunden, aber auch neu hinzugekommen sein.
2. These: Hersteller werden sich zunehmend vertikalisieren und mit ihren Marken selbst den Handel erobern.
3. These: Der stationäre Handel und der Online-Handel werden zunehmend verschmelzen. Systembildung nach Gruppeneinordnung ist die Devise. Ein Scheitern bedeutet das Ende des Händlers.
4. These: Das Marketing für Produkte wird gekennzeichnet durch Individualisierung und Personalisierung. 5. These: Ein großes Thema wird die Emotionalisierung von Produkten sein. Das muss auch online gelingen. Wer das nicht bieten kann, der fällt raus.
6. These: Der stationäre Handel wird eine totale Digitalisierung erfahren. Diese wird auch nicht vor dem eigentlichen Verkaufsort (point of selling/POS) Halt machen.
7. These: Viele Einkaufszentren werden vor dem E-Commerce kapitulieren. Leere Läden in den Mittelstädten und in Nebenlagen von Großstädten nehmen zu. Ein Rückbau ist an der Tagesordnung.
8. These: Mit dem 3-D-Druck werden nicht nur der Handel, sondern auch die Verbraucher zu Produzenten. Die Individualisierung von Produkten wird damit auf ein neues und vielfach professionelleres Level gehoben.
9. These: Handelsmarken werden weiterhin wichtig und bleiben stark.
Fazit: Zukunft des Einkaufens – heute und 2036!
Es bleibt spannend! Ob das hier Geschriebene alles so eintreffen wird, bleibt abzuwarten. Beide Seiten – der Online-Handel wie auch der stationäre Handel – legen sich mächtig ins Zeug. Die Kunden werden ihre Erwartungen weiter nach oben schrauben. Aber eins ist auch klar: Der Handel wandelt sich, der Mensch steht im Mittelpunkt und entscheidet darüber, was und wo er kauft, wie er kauft und ob ihm das Einkaufserlebnis gefallen hat.
Und obwohl das Online-Shoppen viele Vorteile hat, gilt ein Ausflug in die Stadt für viele Verbraucherinnen und Verbraucher weiterhin als Erlebnis und angenehmer Zeitvertreib. Darum meine Bitte, lassen wir den stationären Handel nicht aussterben und vermeiden wir leere Innenstädte!
Der Autor
Wolfgang Rieß
ist Speditionskaufmann und Betriebswirt mit Schwerpunkt Logistik. Er setzte sowohl in der Industrie als auch bei Dienstleistern internationale Projekte um, und er ist Inhaber der Rieß Consulting.